Bericht der Jury
zum 2. Literaturwettbewerb
der KulturHöhe Nidderau
auf Hof Buchwald, Nidderau-Windecken

 

Lebensräume und Metamorphosen:

Was hat es uns gebracht
und was hat jetzt die Welt davon?


Begrüßung

Herzlich willkommen alle, die schon da sind, alle, die noch dazu kommen werden und alle, die vielleicht schon bald nach einem Fluchtweg suchen werden. Ich denke, hier wird es mehr Fluchtwege geben als Suchende.

In diesem Zusammenhang begrüße ich unter allen Gästen und Künstlern hier auf Hof Buchwald mit besonderer Freude den Bürgermeister der Stadt Nidderau, Gerhard Schultheiß. Sie sind zur Zeit ein Sonderfall unter den Bürgermeistern, Herr Schultheiß: In Hamburg ist einer gegangen, der eigentlich noch bleiben musste. In Duisburg bleibt einer, der eigentlich gehen müsste. Sie dagegen bleiben, obwohl Sie nicht gehen müssten! Herzlich willkommen also. Sie dürfen bleiben – auch weil Nidderau nicht wie viele andere Kommunen beim Sparen zuerst an die Kultur denkt.

Ein knappes Viertel der 227 Beiträge, die (wie schon vor zwei Jahren) nicht allein aus den deutschsprachigen Ländern kamen, sondern z.B. auch aus Nordirland, Frankreich, dem Jemen  und Schweden,  waren Lyrik. Ein Zehntel der 212 teilnehmenden Autorinnen und Autoren waren unter 18 Jahren alt. Die Deutschen und speziell die Jungen hätten das Lesen und Schreiben verlernt? Von wegen! Die Jury hätte sich viel Arbeit sparen können. Schon Karl Valentin wusste: „Kunst ist schön, aber macht Arbeit.“

Zur Jury

Bevor Sie etwas über die Beiträge erfahren, muss ich Ihnen kurz die Jury vorstellen. Das waren: Dr. Heike Lasch, Archäologin; Cordula Mohs, Deutschlehrerin; Anja-Frieda Drescher-Parré, Regisseurin und Autorin, und ich als Texter und Drehbuchautor. Was fehlte, waren professionelle Kulturpäpste und Literaturkritiker. Wir konnten also ernsthaft, fröhlich und überwiegend nüchtern arbeiten.

Zunächst  nannte jedes Jurymitglied seine Favoriten (in Prosa und Lyrik, bei den Jung- und Altautoren). Diese Beiträge wurden von allen Juroren mit Punkten bewertet, die dann addiert wurden. Die Beiträge mit den meisten Punkten sollten die Preisträger sein; soweit die demokratische Theorie. In der Praxis hat da erst die Diskussion begonnen: „Also das Ding seh ich überhaupt nicht dabei!“ – „Hä?“ – „Das kommt mir nicht rein, taugt nix!“ – Es kam nicht rein.

Und umgekehrt: „Seid ihr blind? Die ist so was von gut! Die MUSS rein!“ Sie kam rein.

Mit Ausnahme der ersten Preisträger kann man also aus der Reihenfolge der Preise nur sehr bedingt eine differenzierte Qualitätseinstufung ableiten. Unsere Wertung ist genauso subjektiv wie die Literatur, die wir zu bewerten hatten.

„Lebensräume und Metamorphosen“ – das Thema und wie es verstanden wurde

Als das Thema beschlosen wurde, war ich nicht dabei, ich schwör! Und als ich aus dem Krankenhaus kam, war es zu spät. Was für eine abstruse Mischung: ein hochgestochenes Thema in geschwollenen Begriffen, wo Veränderungen nicht einfach Veränderungen heißen durften, sondern Metamorphosen. Und das Leben nicht einfach Leben, sondern Lebensräume und/oder -träume. Und das dann noch als Krimi! Und der dann vielleicht auch noch als Lyrik! War das zu toppen?

Es war, das zeigten die Beiträge, die massiv bei uns eintrafen und längst nicht so abseitig waren, wie man erwarten durfte. Wenigstens die meisten. Ja, es gab ganze Gruppen von Beiträgen, die das Thema unter identischen Gesichtspunkten bearbeiteten – das bedeutet, die Schreiberinnen und Schreiber hatten an das Selbe gedacht … bevor sie daraus ihre ganz eigene Geschichte machten.

Ich möchte Ihnen die Siegerbeiträge und Preisträger daher nicht streng hierarchisch geordnet vorstellen, d.h. vom 1. bis zum 10. Rang, von der Minderjährigkeit bis zum Rentenantritt, sondern zusammengefasst in Gruppen, denen die selben Gedanken in den Kopf kamen und die es für wichtig hielten, daraus eine Geschichte oder ein Gedicht zu machen.

In diesem Zusammenhang wollen wir einige Siegerbeiträge vorlesen. Ich freue mich sehr, dass auch viele Autorinnen und Autoren hier bei uns sitzen, die ihre Beiträge selbst vortragen wollen. Bei den anderen werden die Jurymitglieder das Lesen übernehmen – außer, ein Schreiberkollege erklärt sich bereit, uns ein Stück vorzustellen, das er selbst noch nicht kennt. Ich  fände das sehr spannend. Ich werde nach der Nennung also versuchen, die „herrenlosen“ Beiträge zum Vortragen  zu versteigern. Man braucht dazu kein Geld, sondern nur Mut. Und der wahre Literat ist nicht nur Schreibtischtäter – er ist mutig!

Die Metamorphose im Krimi

Die meisten Krimigeschichten handeln von einer grundlegenden Metamorphose: dem Übergang vom Leben zum Tod. Das reicht für eine persönliche Katastrophe oder einen Polizeibericht, aber reicht es für eine Geschichte?

Für die elfjährige Sara Mostardi Jorge aus Köln reicht es. Uns hat das Einfache überzeugt, das sowohl in ihrem Thema wie in ihrer Sprache aufscheint. Darum möchte ich ihr heute den Vortritt geben; sie hat einen Sonderpreis erhalten, den wir eigens für ihren Beitrag aus dem Boden gestampft haben.

<Beitrag S.M. Jörge: Eine Minute später… >

Unverzichtbar für einen Krimi ist natürlich auch die Figur des Kommissars. Unser 1. Jugendpreisträger Jérôme Denis Andre zeigt ihn als heldenmütigen Durchblicker.  Die Geschichte „Ein Phagen Fall“ setzt allerdings einige Kenntnisse in Mikrobiologie voraus. „Phagen“ sind „Fresser“. Bei uns Menschen gibt es sie vom Körnerfresser bis zum Körperfresser. Hier auf Hof Buchwald sind beide Abarten vertreten – bei Jérome Andre betreten wir die Welt des Mikroskops. Und die Kommissarbakterie hat uns durchaus an Bruce Willis erinnert.

< Beitrag J.D. Andre: Ein Phagen Fall >

Sehr viel menschlicher ist der Kommissar in der Erzählung „Die große Flatter“ von Dietrich von Bern. Falls Ihnen der Name bekannt ist: Das ist nicht nur ein Akteur im Nibelungenlied – es ist auch das Pseudonym eines Autors, dessen bürgerlicher Name, wie er uns schrieb, eher so etwas wie eine Gattungsbezeichnung ist. Das hat er mit mir gemeinsam. Ich heiße Mayr, sein Name ist auch nicht besser.

Als negatives Gegenbild zum Kommissar kann aber auch einmal ein Bürgermeister erscheinen. Einer, der – völlig unrealistisch –  Dreck am Stecken hat und das Vorurteil bestätigt, dass Politik Schleimspuren hinterlässt. Nicole Kovanda aus Wien hat es beschrieben, in ihrem Gedicht „Die Leich im Teich“.

< Beitrag N. Kovanda: Die Leich im Teich“, 3. Preis Lyrik >

Weder Kommissar noch Bürgermeister braucht die 14jährige Lea Wilczok aus Köln mit ihrer perfekt durchkomponierten Geschichte: „Die Hülle“. In der Schule nimmt Lea an der AG „kreatives Schreiben“ teil. Nicht bei allen, die Seminare oder Workshops mit diesem Titel besucht haben, zeigt das Ergebnis übrigens, dass es was gebracht hat. Vielmehr wuchs sehr oft der Groll, dass da offensichtlich Kollegen versucht haben, auch hoffnungslose Fälle  von Poesiealbum-Poeten und –poetinnen darin zu bestärken, sie müssten nur fleißig und zahlungswillig an ihrer Weiterbildung arbeiten, dann würde eines Tages doch noch der Durchbruch kommen. Oder der Nobelpreis. Genug geschimpft. Hier ist …

<Beitrag Lea Wilczok: Die Hülle>

Metamorphosen – als Inhaber des Großen Latinums rastet es bei mir schmerzhaft im Hirn ein und schreit „Ovid“. Offensichtlich bin ich nicht allein: Gleich mehrere Autoren griffen auf die unsterbliche Liebesgeschichte zwischen Pyramus und Thisbe zurück. Das waren natürlich alles Gymnasiasten.  So auch Franziska Hipp aus Böblingen, die zeigt, dass sich Hausaufgaben kriminalistisch auszahlen.

< Beitrag F. Hipp: Ewige Liebe >

Vom Maulbeerbaum kommen wir nahtlos zu anderen Bäumen, denen die Metamorphose schon durch den Wechsel der Jahreszeiten vertraut ist. Vertraut sein sollte. Thorsten Jägers „Geschwistermord“ zeigt, dass es nicht ganz so einfach ist.

< Beitrag Th. Jäger: Geschwistermord“ >

Ganz nah an Jägers Thema ist das Gedicht der 16jährigen  Kimberly Hartl: „Der Axtmord“.

< Beitrag K. Hartl: Der Axtmord >

Das Thema „Metamorphosen“, das in den bisherigen Beiträgen deutlich schwerer wog als die  „Lebensräume“, hat natürlich auch aktuelle Vorläufer. Bei der Metamorphose kann niemand vergessen, dass er „das Schweigen der Lämmer“ gesehen hat, und das Aufdecken düsterer Geheimnisse durch die Entschlüsselung geheimer Hinweise ist ja kein Monopol von Dan Boyle oder Umberto Eco. Die beiden nächsten Beiträge lassen solche Verwandtschaften anklingen.

Zunächst die Geschichte „Zitronengelb“ von Jens Kaup und danach „ Musikalische Metamorphosen“ der Butzbacher Schülerin Lea Rösner. Beide sind heute hier und wir begrüßen sie sehr herzlich.

< J.Kaup: Zitronengelb“ >

< Lea Rösner: Musikalische Metamorphosen“ >

Während im Zentrum der bisherigen Beiträge die „Metamorphose“ stand, lernen wir jetzt zwei Geschichten und ein Gedicht kennen, die darüber nachdenken, welche Rolle der „Lebensraum“ für einen Krimi spielen kann. Es sind spannende Geschichten, das kann ich Iohnen versprechen, und es sind Geschichten,die bei uns ganz oben gelandet sind.

Die Lebensräume der erinnerten Jugend, der nie vergessenen Sünden und der labilen Gegenwart sind der Hintergrund für Meicke Bircks schaurige Geschichte „Anton“. Sie hat einen ersten Preis erhalten.

< Beitrag M. Birck: Anton >

Mit Reich-Ranitzki: „Der Vorhang zu – und schon noch einige Fragen offen“: War Marias Sohn jetzt Maskenbildner, hatte er in Grünwald bei der Bavaria Special Effects gelernt oder hatte Maria nur so eine komische Ahnung gehabt, dass ein blöder Besuch kommt? Egal, welche Luftlöcher der Plot hat:  Die aberwitzigen Purzelbäume der Erzählung haben uns allen sehr gefallen; der „Anton“ tauchte bei jedem Juroren auf der Favoritenliste auf.

Grauenhafte Purzelbäume ergeben sich auch aus dem kalt sezierenden Blick einer Psychologin auf die Zwangsneurose einer befreundeten Frau. In Evelyn Leips Erzählung „Einfach furchtbar“, die den 4. Preis erhielt, endet das kleine Experiment, das die berichtende Analytikerin mit ihrer Bekannten anstellt, in einem Mord. Das Opfer ist ebenso schuldig wie die Zwangsneurotikerin, die ihre lebensnotwendige Ordnung gestört sieht; die wahre Schuldige aber ist die Erzählerin, die, gegen irgendwelche Gewissensbisse schon von Berufs wegen geschützt, den von ihr angezettelten Mord beiläufig vertuscht – und zwar im Interesse der Wissenschaft und weil der Fall doch gar zu interessant ist. Diesem distanzierten Blick der eigentlichen Täterin entspricht die karge, nüchterne Sprache, in der es keinen Raum für Mitfühlen oder Verstehen gibt.

< Beitrag E. Leip >

Zur Erholung ein kurzes Gedicht aus Wien, das den zweiten Lyrikpreis bekam:

<Beitrag Werner Vogel: Das Streben nach Harmonie

Und eine wunderschöne Paraphrase über Lebensräume, die zugestellt schienen und plötzlich frei werden, schrieb Inka Kleinke-Bialy; ihre Geschichte heißt „Ein Leichtes“ und hat mich nicht nur begeistert, weil ich meine beiden Wellnsittiche so liebe und weil ich auch einen Balkon habe:

< Beitrag I. Klein-Bialy: Ein Leichtes >

Genug mit der eher erholsamen Station der „Lebensräume“. Wir kommen zum grauenhaften Finale: zur Metamorphose, die unser wahres Selbst enthüllt. Alle diese Geschichten haben damit zu tun, dass Täter zu Opfern werden oder Opfer zu Tätern oder dass sie in einer Opfer-Täter-Spirale landen, aus der es keinen Ausweg gibt. Kurz: Es geht um Gewalt.

Zuerst von Stefan Valentin Müller aus Aschaffenburg die Geschichte „ Die Nussecke“:

< Beitrag St. V. Müller: Die Nussecke >

Als Stefan Müller erfuhr, dass wir ihm dafür den zweiten ersten Prosapreis geben wollten, schrieb er, er freut sich, dass das Thema Zivilcourage Anerkennung erfahren habe. Irrtum: Wir haben nicht die Gesinnung und die offenkundigen Paralleln zum Fall „Bucher / S-Bahn Solln“ ausgezeichnet; es geht uns nicht um Betroffenheitsprosa. Gefallen hat uns die Verwandlung eines ewigen Verlierers in einen Sieger, und wenn es nur für eine Sekunde ist. Und dass ihm der Tod noch im letzten Moment sein kleines verfressenes Glück gönnt, wenn der Bahnsteig zur Nussecke wird.

Danach unmittelbar das Kontrastprogramm: „Im Kopf eines Verlassenen“ von Michael Sprick aus Düren. Auch diese Geschichte stand auf allen Jury-Zetteln; wir mussten nur noch die bürokratische Frage klären, ob Michael Sprick noch als Jugendlicher durchgeht oder nicht. Einen Preis hat er in jedem Fall verdient.

< Beitrag M. Sprick: Im Kopf eines Verlassenen)

Wir wollen den literarischen Nachmittag auf Hof Buchwald abschließen mit einem Beitrag, der einen Kommentar zu den beiden verstörenden Geschichten abgeben könnte, die wir gerade gehört haben. Es ist der „Maisfeld Krimi“ von Bettina Kenter aus Puchheim bei München. Er erhielt einen 5. Lyrikpreis und in ihm bündelt sich, was unsere Arbeit im  Wettbewerb auf der KulturHöhe Nidderau  lohnend gemacht hat: der Mais, das Grauen, die Sprache … und Lebensräume, die sich durch wirtschaftliche Zwänge verwandeln oder in denen das Überleben zum Krimi wird. Und, wie gesagt, der Mais auf Hof Buchwald.

< Beitrag B. Kenter: Maisfeld-Krimi >

 

Zum Schluss, bevor wir in den Mais eintauchen, bitte ich alle anwesenden Schreiberinnen und Schreiber, nach vorne zu kommen. Es gibt einen Händedruck, Geld und Gutscheine. Und ein Foto sollte schon auch noch drin sein! Danke!

  (Jörg Mayr, Texter und Drehbuchautor)